Donnerstag, 14. November 2013

Wenn meine Mum schon auf ihre schreibfaule Tochter angesprochen wird, dann ist es Zeit einen neuen Eintrag im Blog zu machen, so viel steht fest. Gut, hier kommt er. Um meinen neu erworbenen Ruf zu wahren, veröffentliche ein paar Zeilen aus meinem Rundbrief. Dann zerschlage ich 2 Fliegen mit einer Klappe, BAM.  

Meine anfängliche Überlebensstrategie bestand darin, erst einmal alles zu beobachten und dann nachzumachen. Ich gebe zu, das klingt nicht nach einem ausgeklügeltem Plan, allerdings zeigte er sich als äußert sinnvoll und das nicht nur wenn man die Straße überqueren will und einem Inder so dich hinterherläuft, dass die Gefahr besteht, ihm in die Hacken zu treten. Dieses Risiko geht man jedoch gerne ein, wenn man sich den Verkehr hier einmal anschaut.
Das indische Leben erschlägt jeden Europäer, der vorher noch nicht in Asien war, sobald er das Flughafengebäude verlässt (oder vielleicht auch schon, wenn er es betritt). Hitze, Dreck, überall Menschen und dazu noch ein Lärm und ein Geruch, den man wahrscheinlich alles andere als angenehm findet. So kommt es, dass man sich schon sehr früh mit der Frage konfrontiert, ob dies alles nun wirklich die richtige Entscheidung war und wie genau man jetzt ein halbes Jahr in diesem Land überleben kann.
Nach ungefähr 2 Monaten in meinem neuen Zuhause hier in Mayiladuthurai fällt die Antwort erstaunlich leicht. Ja, es war die richtige Entscheidung und im Grunde ist das Leben hier recht einfach, aber sehr aufregend.

Ich wohne nun auf dem T.E.L.C Compound, einem Heim, beziehungsweise Internat mit ungefähr 250 Mädchen zwischen 6 und 19 Jahren.
Die Kinder sind keine Waisen, sondern kommen aus sehr armen Familien, die nicht richtig für sie sorgen können. Dies ist durchaus zusammenhängend mit der allgemeinen Benachteiligung von Mädchen und Frauen in der indischen Gesellschaft. Hier aber werden ihnen Essen, ein sicheres Umfeld und eine Schulbildung ermöglicht. Die Regeln sind allerdings sehr streng und der Zeitplan ist voll: Neben Essen, Schule, Küchendienst und dem Waschen der Kleidung ist auch noch Gartenarbeit, also die Pflege des Geländes notwendig. Nach der Schule müssen die Mädchen ihre Hausaufgaben machen und nach dem Abendbrot kommt es erneut zu einer Lerneinheit. Auch Samstag ist Unterricht und Sonntagvormittag gehen alle geschlossen in die Kirche.
Kathi, meine Mitfreiwillge, und ich haben ein Zimmer mit Bad in dem Haupthaus, in dem sich auch noch die zwei Zimmer der Managerin, ein Gästezimmer, unser Esszimmer und die Büroräume befinden.

             
Wenn ich nun versuche, unseren Tagesablauf darzustellen ist das nicht so ganz einfach, denn hier ist wirklich jeder Tag anders. Ich muss auch zugeben, wir haben eher nur einen Plan, wie unser Alltag eigentlich aussehen sollte, doch kommt es noch höchst selten vor, dass er sich im Laufe des Tages wirklich so erfüllt, wie er vorhergesehen ist.
Normalweise also, stehen wir um 5 vor 8 auf, um dann um 8 beim Essen zu sein. Um halb 9 sind wir meistens fertig und gehen zum Morning Prayer, welches dann bis viertel vor 9 dauert. Dann geht’s  um 9 los zum Busbahnhof und wir fahren um 10 nach 9 nach Killiyanur zum Kindergarten. Mit dem Fußweg einberechnet sind wir immer ungefähr um 10 Uhr dort und beginnen uns dann gleich mit den Kindern zu beschäftigen. Wenn wir ankommen, dann springen sie auch immer schon auf und begrüßen uns ganz freudig mit „Good morning akka“, was so viel heißt wie „große Schwester“. Um 11 Uhr bekommen die Kleinen immer eine Art Brei und wir eine unglaublich leckeren Tee mit Obst oder Keksen. Danach beginnt das Programm: Wir teilen uns meistens auf und ich gehe zu den größeren Kindern. Wir üben Buchstaben oder Zahlen, malen (dann geben mir die Kinder immer ihre Tafeln und ich soll malen, was sie sagen. Äußerst selten malen sie selber etwas), singen oder tanzen und erzählen Geschichten. Die Verständigung klappt soweit ganz gut, allerdings werde ich schon immer etwas traurig, wenn sie mir eine Geschichte erzählen und ich sie einfach nicht verstehe. Andersherum ist es aber auch so, dass sie mich nicht verstehen. So braucht man wirklich einen langen Atem, wenn alle Kinder singen sollen, es aber so eins, zwei Kandidaten gibt, die einfach keine Lust haben zu singen und immer wieder aufspringen und weglaufen. Ushar, die beispielsweise in der letzten Woche allein mit 20 Kindern war, kann nicht auf alle gleichzeitig aufpassen und wenn wir die Ausreißer dann zurückbringen ist das gar nicht so leicht, wenn man nicht einfach sagen: „Bleib jetzt hier und sing, ich meine es ernst.“. Mit den meisten gelingt aber eine nähere Beziehung und wenn Ranjitha, mein absoluter Liebling, mich morgens anlächelt, dann weiß ich warum ich aufgestanden bin, um 8. Klingt vielleicht etwas kitschig, aber dieses Mädchen ist einfach so süß. 
Um 1 Uhr gibt es dann Essen, meistens Reis mit Soße und einer Beilage, wie zum Beispiel ein Ei, Rote Beete oder manchmal auch Hühnchen. Wir essen dann immer um halb 2. In Killiyanur ist das Essen wirklich richtig lecker. Auch wir kriegen Reis mit Soße (Chutney), allerdings auch noch Möhren, Bohnen oder Kartoffeln und ein Spiegelei. An besonders guten Tagen, so seh ich das, gibt es Chappati. Eine Art Weizenfladen, sehr kross angebraten und hier bis jetzt das beste, was ich gegessen habe. Am Dienstag wollen wir beim Kochen helfen und uns das Rezept aufschreiben, damit, wenn ich wieder da bin, ihr alle von meinem super Chappatis kosten könnt.
Im Kindergarten ist danach Mittagsschlaf angesagt, den wir und die Betreuerinnen meistens genauso halten wie die Kinder. Um drei gibt es dann noch einmal den Brei und danach werden sie auch schon wieder abgeholt.
 Wir unterhalten uns dann immer noch mit den Mädchen aus der Nähschule, die auch auf dem Gelände des Kindergartens liegt. Um 4 bekommen alle noch einmal einen Tee und man sitzt gemütlich beisammen. Den Bus nehmen wir immer um halb 5 und sind dann wieder kurz nach 5 zuhause.
Nach 2 Monaten in Killiyanur werden Kathi und ich jeweils in unterschiedliche Kindergarten gehen, denn zum Compound gehören drei, die sich in der näheren Umgebung befinden: in Killiyanur, Ambumalar und Patamangalam. Letzterer wird meine neue Arbeitsstätte.

Nach einer kurzen Entspannung zuhause geht es dann aber noch mit unserem Englisch oder Flötenunterricht weiter, der findet nämlich von 6 bis7 statt. Schon nach 2 Stunden wird hier aber deutlich: Ich werde aus den Mädchen keine Oxford – Studentinnen machen können. Zum einen liegt das natürlich an mir, allerdings ist auch auffällig wie unterschiedlich das Bildungsniveau ist. Ein Mädchen ist unglaublich aufmerksam und sehr intelligent, aufgeschlossen, ein anderes dagegen kann nicht richtig schreiben, nimmt sich selber stark zurück und ist sehr still. Beide sind unglaublich lieb, aber es fällt mir schwer, den „Unterricht“ so zu gestalten, dass sich alle angesprochen fühlen, obwohl meine Gruppe nur aus 5 Mädchen besteht. So bleibt es eher bei Spiel und Spaß, viel reden, aber auch zuhören und ihnen einfach eine Stunde Entspannung und Aufmerksamkeit zu schenken, die sie gut gebrauchen können, in ihrem straffen Alltag. Sie haben bereits einen Platz in meinem Herzen, auch schon, bevor sie mir eine kleine Puppe geschenkt haben, die aussieht, als ob sie schon 2 Jahre an einem Ranzen hängt. Trotzdem war ich irgendwie gerührt.
Mit meiner Flötengruppe übe ich gerade „ Lasst uns froh und munter sein“. Das Lied mag ich und jetzt mögen sie es auch. Es musste nur leicht verändert werden, denn die Achtel waren zu schwierig und wer eine ambitionierte Blockflötistin ist, weiß, dass das tiefe C nicht gerade einfach ist, weil man alle Finger auf die Löcher drücken muss. Die Mädchen, deren Finger wirklich sehr klein sind, hatten damit ihre Probleme und so habe ich einfach die tiefen Cs durch andere Töne ersetzt (sind ja nur 2). Geübte Hörer werden das gute Lied aber trotzdem noch erkennen.
Für uns ist der Tag nach dem Abendbrot um 8 Uhr dann offiziell vorbei.

Indien bleibt für mich – bis jetzt, man weiß ja nicht was noch alles so kommt – auf jeden fall noch ein Rätsel. Es passieren Dinge, von denen man vielleicht nicht glaubt, dass sie wirklich passieren.
So zum Beispiel mein Doktor, den ihr ja alle kennt, der dieses Mal gesagt hat, dass er zu meiner Hochzeit kommt und wirklich ungläubig geguckt hat, als ich meinte, dass bis dahin noch mindestens 6 bis 7 Jahre vergehen sollen.
Kathi wurde von einem Affen gebissen, der hier auf dem Compound rumgelaufen ist. Er hat sich um ihr Bein geschlungen und nun ja, zugebissen und sie bekam danach bestimmt 4 Injektionen, von denen wir hoffen, dass sie wirklich helfen und nicht schaden. Sie lebt aber noch.
Am Mittwoch gab es einen heftigen Monsunregen, der unseren ganzen Kindergarten überschwemmt hat und den Garten in ein Meer verwandelte. Zum Bus sind wir also geschwommen und nach Hause auch. Ich habe schon lange nicht mehr so viel Regen gesehen wie an diesem Tag.
Gestern ist mir ein Mann entgegengekommen. Der war quasi nackt, mit einem kleinen Tuch in Form einer Servierte um die Hüfte und er hat dem Betrachter tiefe Einblicke gewährt, auf die man auch hätte verzichten können. So etwas gibt es in Deutschland einfach nicht!

Trotzdem, wir fühlen uns hier wohl und herzlich aufgenommen. Die Menschen sind unglaublich freundlich und wir haben schon ganz viele indische Mamis, Omis und Schwestern, die uns immer helfen, wenn wir irgendwelche Fragen und Wünsche haben.
Natürlich gibt es auch Unangenehmes, Unverständnis und bedrückende Momente, aber dazu – um die Spannung aufrecht zu erhalten – mehr im nächsten Rundbrief.

Bis dahin, euch alles Gute, macht was, ich schicke euch ein paar Sonnenstrahlen.